Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Stadt Heidelberg den Verkehrslärm durch eine Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h mindern möchte. Warum die Vorgaben des Kooperationserlasses-Lärmaktionsplanung Baden-Württemberg (8.2.2023) jedoch nicht überall und vollumfänglich erfüllt werden, ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir fordern, dass die Stadt Heidelberg den Schutz seiner Bewohnenden sicherstellt.
Lärmaktionsplan der Stadt Heidelberg muss sich nach den Vorgaben des Erlasses richten
Der Kooperationserlass-Lärmaktionsplanung weist zwei Stufen der gesundheitlichen Beeinträchtigung durch zu hohe Lärmwerte aus:
1. „Lärmbelastungen ab 65 dB(A) am Tag und 55 dB(A) in der Nacht liegen in einem gesundheitskritischen Bereich. Daher sind Bereiche mit Lärmbelastungen ab 65 dB(A) LDEN und 55 dB(A) LNight bei einer qualifizierten Lärmaktionsplanung auf jeden Fall zu berücksichtigenn.“1
2. „Vordringlicher Handlungsbedarf zur Lärmminderung und zur Verringerung der Anzahl der Betroffenen besteht in Bereichen mit sehr hohen und im Blick auf den Gesundheitsschutz grundrechtlich relevanten Lärmbelastungen ab 70 dB(A) LDEN und 60 dB(A) LNight.“ 2
Ab einer Lärmbelastung im gesundheitskritischen Bereich entfällt der Ermessensspielraum, der den Kommunen ansonsten zugestanden wird. Ab hier entsteht eine Pflicht zum Einschreiten.
Im Kooperationserlass-Lärmaktionsplanung heißt es dazu:
„Maßnahmen, die rechtsfehlerfrei in einem Lärmaktionsplan festgelegt wurden, entfalten für diese Straßen eine Bindungswirkung gegenüber den für die Umsetzung der Maßnahme zuständigen Fachbehörden, bei straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen den Straßenverkehrsbehörden. (…) Der fachrechtliche Ermessensspielraum wird durch die Lärmaktionsplanung überlagert. (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2018, Az. 10 S 2449/17, Rn. 28)”3
Und:
“…, das Ersetzen der Ermessensentscheidung des Lärmaktionsplans durch eine eigene Ermessensentscheidung der Straßenverkehrsbehörde ist nicht zulässig.”4
Anhand der drei nachfolgenden Beispiele zeigen wir auf, dass Heidelberg seiner Pflicht zur Anordnung bzw. Durchführung von Maßnahmen nicht in Gänze nachkommt. In diesen Bereichen, wie auch in weiteren Straßenabschnitten, ist tagsüber keine Reduzierung der Geschwindigkeit zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung geplant.
Streckenabschnitt | Lärmwerte am Tag (LDEN 6 -22 Uhr) | Lärmbelastungen im gesundheits- kritischen Bereich am Tag | Grundrechtlich relevante Lärmbelastungen am Tag |
Mittermaierstraße Willy-Brandt-Platz bis Vangerowstraße | 70 – 75 dB(A), z.T. über 75 dB(A) | ab 65 dB(A) | ab 70 dB(A) |
Karlsruher Straße Sickingenstr. bis Freiburger Straße | 70 – 75 dB(A) z.T. über 75 dB(A) | ab 65 dB(A) | ab 70 dB(A) |
Vangerowstraße Ernst-Walz-Brücke bis Yorckstraße | 70 – 75 dB(A) z.T. über 75 dB(A) | ab 65 dB(A) | ab 70 dB(A) |
Die Verwaltung begründet ihre Entscheidung, keine Reduzierung auf Tempo 30 anzuordnen, damit, dass Tempo 30
- „Geschwindigkeitsbrüche“ provoziere, die „einen homogenen Verkehrsfluss“ verhindern und
- zu „Verkehrsverlagerungen“ führen würde.6
Beide Argumente entsprechen jedoch nicht dem Stand der Forschung und werden in einschlägigen Studien widerlegt, zusammengeführt vom Umweltbundesamt (UBA)..
Zu 1. – Geschwindigkeitsbrüche (Grünphasen)
„Die Dauer der Grünphase steht nicht im Zusammenhang mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und ist somit bei Tempo 30 und Tempo 50 unverändert,“ und „die Sättigungsverkehrsstärke beträgt somit bei 50 km/h und bei 30 km/h grundsätzlich 2.000 Kfz je Stunde und Fahrstreifen”.7
„Eine Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hat in den meisten Fällen keinen nennenswerten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit einer Hauptverkehrsstraße für den Kfz-Verkehr. (…). Die Funktion einer innerstädtischen Hauptverkehrsstraße für den Kfz-Verkehr wird daher durch Tempo 30 nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigt“.8
Hierzu stellt das UBA konkrete Messungen aus verschiedenen deutschen Städten vor, wie z.B. Berlin oder Frankfurt.9
Zu 1. – Homogener Verkehrsfluss
Dazu das UBA: „Die Qualität des Verkehrsflusses kann indirekt durch geringere Höchstgeschwindigkeiten steigen, weil die geringere Spannweite der gefahrenen Geschwindigkeiten eine bessere Fahrzeug-Pulkbildung ermöglicht und damit die Nutzung von Grünen Wellen unterstützen kann. Für die subjektive Qualitätswahrnehmung der Autofahrenden sind gleichmäßige Verkehrsströme ohne große Geschwindigkeitsdifferenzen auf einem niedrigeren, aber homogenen Niveau positiver als höhere Spitzengeschwindigkeiten mit mehr Stopps“.10
Zu 2. – Verkehrsverlagerungen
Dazu das UBA: „Keine der vorliegenden Untersuchungen stellt fest, dass die Anordnung von Tempo 30 zu nennenswerten Verkehrsverlagerungen in andere Straßen geführt hätte“.11
Wichtige Vorteile für die Einrichtung von Tempo 30 im Rahmen des Lärmaktionsplans
- Absenkung des Lärmpegels um 2-4 dB(A) an hochbelasteten Straßen
- Verringerung der subjektiv wahrgenommenen Lärmbelästigung durch Straßenlärm von 75% der Bevölkerung
- Schutz vor dauerhafter Lärmbelästigung, die zu Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen führen kann
Weitere wichtige Vorteile für die Einrichtung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit
- Erhöhung der Verkehrssicherheit durch verringerten Anhalteweg
- Reduzierung von Unfällen
- Einheitliche Regelgeschwindigkeit mit Ausnahme von geringeren Geschwindigkeiten
- Verbesserung der Luftqualität
- Reduzierung der Beschilderung
- Klare Orientierung durch ein einheitliches Geschwindigkeitsniveau
- Verbesserung des Verkehrsverhaltens und des Miteinanders
- Abnahme des Stress- und Aggressionspotentials für alle Verkehrsteilnehmenden
- Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl hin zu nachhaltigen Verkehrsmitteln
- Förderung von Fuß- und Radverkehr
- Schaffung einer lebenswerten Stadt
Beispiele aus deutschen und europäischen Großstädten belegen, dass die stadtweite Einrichtung von Tempo 30 nicht nur zur Lärmminderung führt.12
Zusammenfassung
Die vorgelegten Maßnahmen des Lärmaktionsplans erfüllen nicht die Vorgaben des Kooperationserlasses. Wir fordern die Stadt Heidelberg auf, dem Schutz der Bewohnenden oberste Priorität einzuräumen. Darüber hinaus fordern wir Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, um nicht nur die Lärmbelastungen zu reduzieren, sondern auch Verkehrssicherheit und Lebensqualität deutlich zu erhöhen. Forderungen, die auch dem Klimamobilitätsplan und anderen Planwerken an eine lebenswerte Stadt gerecht werden.
Mit der Einführung von flächendeckendem Tempo 30 würde Heidelberg als Stadt des Klimaschutzes und der Verkehrswende ernst genommen werden, jedoch nicht mit dem jetzt vorgeschlagenen Flickenteppich von Einzelmaßnahmen!
Unsere gemeinsame Stellungnahme als PDF-Datei: hier
1 Lärmaktionsplanung in Baden-Württemberg – Kooperationserlass Lärmaktionsplanung, S.11
2 Lärmaktionsplanung in Baden-Württemberg, S.11
3 Lärmaktionsplanung in Baden-Württemberg, S.27-28
4 Lärmaktionsplanung in Baden-Württemberg, S.21
5 Gemeinderat Heidelberg – BV0303/2024 – Anlage 01_01_Verkehrslaermkartierung_Rasterlaermkarte_Strasse_Lden.pdf
6 Gemeinderat Heidelberg – BV0303/2024 Anlage 09
8 Heinrichs et al 2016, S.5
9 Heinrichs et al 2016, S.6-8
10 Heinrichs et al 2016, S.10
11 Heinrichs et al 2016, S. 17
12 Yannis, G.; Michelaraki, E. (2024). Review of City-Wide 30 km/h Speed Limit Benefits in Europe