Wir haben die Stellungnahme der Verwaltung (Anlage 04.01 zur Drucksache 0089/2025/BV) zum Lärmaktionsplan (LAP) gründlich untersucht und festgestellt, dass die Analyse einer einheitlichen Systematik entbehrt. Stattdessen zeigt sich eine lückenhafte, widersprüchliche und teilweise fehlerhafte Argumentation. Weiterhin nutzt die Stadt ihren Handlungsspielraum nicht, um eine möglichst umfassende Reduzierung der Lärmbelastung zu erzielen. Vielmehr kommt sie mithilfe von verzerrenden Auslassungen, intransparenten Berechnungsgrundlagen und unzulässigen Annahmen zum Schluss, dass auf Hauptachsen Tempo 50 beibehalten werden muss.
Einleitung
Zunächst einige Erläuterungen zur rechtlichen Situation für die Einordnung der von der Verwaltung angeführten Argumente: Bei ihrer verkehrsrechtlichen Stellungnahme bezieht sich die Verwaltung vor allem auf die Abwägungskriterien aus dem ministeriellen Kooperationserlass (KE) und legt damit auch dessen Vorgaben zugrunde. Dieser legt die Staffelung der Lärmwerte fest, die das Ermessen der Verwaltung z. T. einschränkt, wenn die Lärmbelastung die grundrechtliche Schwelle zur Gesundheitsgefährdung überschreitet. Unter dieser Schwelle ist den umsetzenden Kommunen eine Abwägung erlaubt:
65 dB(A) tags und 55 dB(A) nachts liegen im gesundheitskritischen Bereich. Wenn diese Werte überschritten wird, „verdichtet sich das Ermessen zum Einschreiten“. Und „bei einer Überschreitung dieser Werte um 2 dB(A) reduziert sich das Ermessen hin zur grundsätzlichen Pflicht zur Anordnung bzw. Durchführung von Maßnahmen auf den betroffenen Straßenabschnitten“.
„Bei Lärmbeeinträchtigungen oberhalb der o. g. Werte kann von verkehrsrechtlichen Maßnahmen abgesehen werden, wenn dies mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile (z. B. in Bezug auf Luftreinhaltung, Leistungsfähigkeit, Verkehrsverlagerung, Verkehrsfunktion bei Ortsumfahrungen) qualifiziert belegt wird und trotz vorhandener Lärmbelastung mit gesundheitskritischen Lärmpegeln erforderlich erscheint.“ Mit diesem Satz umgeht die Heidelberger Verwaltung ihre Pflicht zum Handeln, siehe S. 4 der verkehrsrechtlichen Stellungnahme.
„Spätestens bei Lärmpegeln ab 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts überschreitet die Lärmbelastung die grundrechtliche Schwelle zur Gesundheitsgefährdung (BVerwG 9 A 16.16, Beschluss vom 25. April 2018, Rn. 86f). Solche Lärmsituationen müssen abwägungsgerecht gelöst werden.“ Dieses Instrument der Abwägung wird von der Verwaltung wiederholt genutzt, jedoch uneinheitlich und auf nicht nachvollziehbare Weise.
Im Folgenden möchten wir beispielhaft anhand einiger Straßenabschnitte auf den avisierten Hauptachsen die fehlende Systematik bzw. das widersprüchliche Vorgehen innerhalb der Stellungnahme aufzeigen. Im Ergebnis verfehlt der Lärmaktionsplan sein Ziel, den Menschen in Heidelberg, die oft besonders unter den hohen Lärmwerten leiden – und das sind vor allem die vulnerablen sozioökonomischen Gruppen – den angemessenen gesundheitlichen Schutz zukommen zu lassen.
Darstellung der Lärmwerte
In der Stellungnahme der Verwaltung werden ausschließlich Nachtwerte vorgestellt. Zum Teil dramatisch schlechtere Tageswerte, die im gesundheitsgefährden Bereich liegen und „das Ermessen hin zur grundsätzlichen Pflicht zur Anordnung bzw. Durchführung von Maßnahmen auf den betroffenen Straßenabschnitten“ reduzieren würden, bleiben unberücksichtigt: „Eine Betroffenheit tagsüber ist analog anzunehmen“, (Vangerowstraße (A_08_08)) oder „analog eine[r] entsprechend höhere[n] Betroffenheit tagsüber“ (Rohrbacher Straße (A_18_19)). Das reduziert nach dem KE „das Ermessen hin zur grundsätzlichen Pflicht zur Anordnung bzw. Durchführung von Maßnahmen auf den betroffenen Straßenabschnitten“ (Kooperationserlass, S. 23).
Visuelle Darstellung
Die Darstellung der Gebäudelärmkartierung wirkt ebenso verzerrend, da auch hier in allen Steckbriefen die anzusetzenden Lärmwerte tagsüber ungenannt bleiben. Weiterhin wird eine veraltete Gebäudelärmkartierung (nachts) von 2022 anstatt von 2024 herangezogen und dadurch häufig mit unzutreffend niedrigen Lärmwerten argumentiert. Denn in fast allen Straßenabschnitten hat sich von 2022 bis 2024 nachts die Lärmsituation verschlechtert und damit hat auch die Anzahl der von höheren Lärmwerten betroffenen Gebäude zugenommen, um z. B. 7 Gebäude am Hans-Thoma-Platz (A_08_02), 11 Gebäude in der Kurfürstenanlage (A_08_15) und bis zu 12 Gebäuden in der Römerstraße (A_08_22).
Die Werte von 2024 wurden dem Gemeinderat und den Bürger*innen zur Verfügung gestellt: https://www.heidelberg.de/HD/Leben/Laermaktionsplanung.html.
Gesundheit
Streckenabschnitte auf den Hauptachsen werden tagsüber von der Zielsetzung des LAP – die Reduktion einer gesundheitsschädlichen Lärmbelastung – regelrecht ausgenommen. T30 wird tagsüber (6-22 Uhr) abgelehnt, wenn sich der überwiegende Anteil der Anwohnenden im berufsfähigen Alter und folglich (vermeintlich) tagsüber außer Haus befindet. Die Argumentation lässt dabei unberücksichtigt: Home-Office, Kranke, Ältere, Kinder und deren Versorgungspersonen, besonders schützenswerte Personengruppen wie Kliniken, Seniorenheim, Schulen, Kitas (die gemäß Kooperationserlass besonders zu berücksichtigen sind) – und die Tatsache, dass ein regulärer Arbeitstag 8 (und nicht 16) Stunden umfasst.
Aus unserer Sicht muss – entsprechend dem Kooperationserlass – der Gesundheitsschutz an allen Stecken, die als gesundheitsgefährdend eingestuft werden, Vorrang vor der Abwägung haben.
Kriterien der Abwägung
Entscheidende Kriterien der Abwägung werden wiederholt ignoriert oder nicht korrekt bewertet.
Auslassung positiver Aspekte
Obwohl in den meisten Steckbriefen neben der Lärmverringerung auch positive Nebeneffekte von T30 genannt werden, wie z. B. Vorantreiben der Verkehrswende und erhöhte Sicherheit für alle Verkehrsbeteiligten, bleiben sie bei der Entscheidungsfindung unberücksichtigt. Beispielhaft sind zu nennen:
- eine sicherere Nutzung der Schutzstreifen für den Radverkehr (z. B. A_08_01 Dossenheimer Landstraße, A_08_15 Kurfürsten-Anlage)
- sichereres Queren für den Fußverkehr (z. B. 08_01 Dossenheimer Landstraße, A_24_01 Steubenstraße)
- verbesserte Sichtbeziehungen zu den Seitenstraßen von den Hauptachsen (z. B. A_08_03 Rottmannstraße, A_24_01 Steubenstraße, A_24_03 Handschuhsheimer Landstraße)
- entschärfte Abbiegesituationen (z B. A_08_01 Dossenheimer Landstraße)
Intransparente und uneinheitliche Berechnung von Fahrzeitverzögerung und ÖPNV-Kostenfaktor
Als Berechnungsgrundlage für die Fahrzeitverzögerung (FZV) bei T30 statt T50 gibt der Kooperationserlass den Grundwert von 20 Sekunden pro 1000m Strecke für den ÖPNV an und 30 Sek für den MIV (Kooperationserlass, S. 24). Die Verwaltung greift auf diesen Wert nur für den MIV zurück. Beim ÖPNV jedoch legt sie für die FZV einen Grundwert von 48 Sekunden pro 1000m Strecke an. Auf dieser abweichenden Grundlage werden häufig „signifikante“ Verzögerungen für den ÖPNV errechnet, die Mehrkosten für zusätzlich erforderliche Busse/Straßenbahnen zur Folge hätten – mit denen dann wiederum die Ablehnung von T30 begründet wird.
Die Verwaltung bezieht sich für ihre Abwägung auf den Kooperationserlass. Aus unserer Sicht muss sie folgerichtig als Basis ihrer Berechnungen die Vorgaben des KE zugrunde legen und so die Umläufe für Bus und Bahn – und damit auch die Kostenschätzung – auf eine korrekte Grundlage stellen. Dadurch ergibt sich an einigen Stellen die Möglichkeit der Reduzierung auf T30, z. B. Linie 26 auf den Abschnitten Dossenheimer Landstraße (A_08_01), Rottmannstraße (A_08_03), Steubenstraße (A_24_01) und Handschuhsheimer Straße (A_24_03).
Straßenabschnitt | Länge | Fahrzeug | Verzögerung KE | Verzögerung Verwaltung |
Dossenheimer Landstraße | 515 m | Straßenbahn | 10 Sek | 48 Sek |
Rottmannstraße Steubenstraße, Handschuhsheimer Straße | zusammen 1488 m | Straßenbahn | 30 Sek | 66 Sek |
Am Hackteufel | 1170 m | Gelenkbus | 24 Sek | 78 Sek |
Verdrängung
Verdrängung wird wiederholt als Abwägungskriterium zugunsten von T50 herangezogen. Weder eine Herleitung zur Einschätzung noch gegensteuernde Maßnahmen werden angeführt. Weiterhin ist die Argumentation zum Teil widersprüchlich oder sogar falsch. Beispiel ist die Dossenheimer Landstraße (A_08_01). Hier wird zunächst im Steckbrief im Abschnitt “Verdrängung” angegeben, dass der Verkehr auf die parallelen Nord-Süd-Achsen der Hans-Thoma-Str./Zeppelinstr. bzw. Burgstr./Steubenstr. verdrängt würde. Im „Fazit“ wird dann die Achse Zeppelinstraße als zukünftige Fahrradstraße als entschleunigender Faktor angeführt. Damit ist die Zeppelinstraße nicht mehr attraktiv für eine Verdrängung. Gleichzeitig wird für die existierende Fahrradstraße auf der Achse Steubenstraße nicht mit Entschleunigung argumentiert.
Aus unserer Sicht ist die Annahme eines Verdrängungsverkehrs von Hauptverkehrsachsen auf bestehende und geplante Fahrradstraßen als Abwägungskriterium nicht haltbar, da der Verkehr auf letzteren langsamer läuft und daher keine attraktive Ausweichroute darstellt. Dasselbe gilt für Strecken, auf denen T30 bereits ausgewiesen ist bzw. zukünftig ausgewiesen werden soll.
Akzeptanz
Das Kriterium „Akzeptanz“ wird ausschließlich aus der MIV-Perspektive eingenommen und dient meist zur Argumentation zu Gunsten von T50 wegen der Auswirkung auf die Durchschnittsgeschwindigkeit. Akzeptanz-fördernde Aspekte hingegen, wie z. B. Entschleunigung an Querungen und Einmündungen oder Mischverkehr (Auto und Rad), bleiben häufig unerwähnt. Beispielhaft ist hier die Dossenheimer Straße zu nennen (A_08_01). Die Aspekte werden oft nur für einen einzigen Streckenabschnitt benannt, nicht aber auf alle ausgerollt, obwohl sie für viele Abschnitte der Hauptachsen gelten. Dieses Auslassen verfälscht das Kriterium der Akzeptanz und führt zu einer falschen Bewertung bei der Abwägung.
Eine uneinheitliche Anwendung des Kriteriums ist auch bei der Entschleunigung durch geleitete oder zufällige Zufußgehende zu finden. Während am Hans-Thoma-Platz (A_08_02) positiv mit der hohen Anzahl an querenden Zufußgehenden argumentiert wird, geschieht dies an anderen Orten – wie z. B. Am Hackteufel (A_08_18) – nicht, obgleich gerade das südliche Neckarufer durch eine große Zahl an Touristen geprägt ist. T30 tagsüber ist hier neben der Lärmreduktion für die Anwohnenden auch für eine sichere Straßenquerung notwendig. Die Argumente werden bei der Abwägung ignoriert, möglichweise, weil es sich hier um die Haupt-W-O-Achse handelt.
Diese Annahme wird dadurch unterstützt, dass am gesamten Neckarufer nur eine einzige Messung der Durchschnittsgeschwindigkeit V85 (Am Hackteufel, A_08_18) gemacht wird, und zwar dort, wo der Verkehr schneller läuft. Die hier gemessene Geschwindigkeit wird dann unzulässigerweise auf das gesamte Neckarufer übertragen: Die Straße Am Hackteufel ist stark befahren, es gibt viele Ampeln und weitere ungeregelte Fußgängerquerungen. Zudem bewegen sich die Radfahrenden hier im Mischverkehr, entschleunigen den Verkehr zusätzlich, was eine höhere Akzeptanz von T30 nahelegt.
Widersprüche
In den Streckbriefen fallen Argumentationssprünge und Widersprüche auf. Ein symptomatisches Beispiel ist die Fahrzeitverzögerung (FZV) in der Rohrbacher Straße (A_08_19). Hier wird zunächst die FZV hervorgehoben, um dann aufgrund der geringen Durchschnittsgeschwindigkeit von 36,62 km/h als Argument gegen T30 angeführt zu werden.
Synergien
Der Klimamobilitätsplan (KMP) wird von der Verwaltung wiederholt angeführt, um die neuen Hauptachsen und die dort beabsichtigte Bündelung des Verkehrs hervorzuheben, die vermeintlich T50 erforderlich machen. Die Zielsetzung des KMP ist jedoch die Stärkung des Umweltverbunds im Sinne der angestrebten Verkehrswende. So soll z. B. die Rottmannstraße (A_08_03) zukünftig zur Umweltachse werden. Dennoch wird die hohe Verkehrsbedeutung der Straße als Argument gegen T30 tagsüber herangezogen. Dabei ist es neben der Lärmreduktion entscheidend, dass auf einer Umweltachse der Verkehr langsamer läuft.
Um die Synergieeffekte zwischen Lärmaktionsplan und Klimamobilitätsplan zu nutzen, wäre T30 argumentativ möglich. Diese Argumentation – und damit der Synergieeffekt – bleibt jedoch aus.
Beteiligung der Öffentlichkeit
Nach dem Kooperationserlass ist „die Öffentlichkeit zu beteiligen und erhält rechtzeitig und effektiv die Möglichkeit, an der Ausarbeitung, der Überprüfung und der erforderlichenfalls erfolgenden Überarbeitung der Lärmaktionspläne mitzuwirken“ (Kooperationserlass, S. 12). Die Verwaltung hat die Öffentlichkeit zwar beteiligt, aber die Eingaben der Privatpersonen, die eine Geschwindigkeitsreduktion fordern (immerhin 40 von 52 Personen, also 77%), in keiner Weise berücksichtigt. Eine Mitwirkung an der Überarbeitung des Lärmaktionsplans fand folglich nicht statt. Umso wichtiger ist es aus unserer Sicht, dass der Gemeinderat als Vertretung der Bürgerschaft seine Kompetenz nutzt.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist aus unserer Sicht eine umfassende Überarbeitung des durch die Verwaltung vorgeschlagenen Lärmaktionsplans erforderlich. Auf eine nachvollziehbare Systematik sowie eine vollständige und einheitliche Argumentation kann dabei nicht verzichtet werden.
Mit Hilfe des Gemeinderats kann der Lärmaktionsplan zu einem wirksamen Hebel werden, um die Heidelberger Bevölkerung – insbesondere die sozioökonomisch vulnerablen Gruppen – vor gesundheitlicher Gefährdung zu schützen. Der Lärmaktionsplan ist weiterhin geeignet, die Umsetzung des Klimamobilitätsplans zu erleichtern, indem er den Fuß- und Radverkehr stärkt und so zu einer zukunftsfähigen und gesünderen Mobilität in Heidelberg beiträgt.