Ein Bericht von Christoph Kleeberg.

Mein Wecker klingelt um 06:30. An einem Sonntag. Es ist der 02.02.2025 und als es 08:00 ist, bin ich bereits in Karlsruhe mit dem Fahrrad aus dem Zug gestiegen. Habe mich dem polizeibegleiteten Zubringer aus knapp 50 Radfahrenden nach Pforzheim angeschlossen. Gegen 10:45 erreichen wir unser Ziel: Die Gedenkveranstaltung für Andreas Mandalka.

Andreas wurde am 30.01.2024 von einem Autofahrer auf gerader Strecke totgefahren. Auf einer Strecke, die er beinahe täglich fuhr. Auf der Strecke, über die er in seinem Blog natenom.de und auf Mastodon, früher auf Twitter, so viel berichtet hatte. Seine Erlebnisse geteilt hat. Mit Bildern, Videos, Texten. Weil ich Andreas nur von Social Media kenne, war er für mich jahrelang “nur” natenom. natenom ist einer, der alle Wege mit dem Fahrrad zurücklegt. Trotz der bergigen Landschaft. natenom ist einer, der dokumentiert, wie schlecht die Infrastruktur bei ihm vor Ort ist; wie sehr es zum Alltag gehört, als Radfahrer von Autofahrenden gefährdet zu werden. Einer, der Anzeigen schreibt. Gegen Autofahrende, die ihn bedrängen, nötigen. Die ihn beschimpfen, bespucken.

Andreas geht in Pforzheim zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft, die ihn beide abwimmeln, seine Anzeigen nicht verfolgen. Wenn doch mal eine widerwillig aufgenommen wird, wird sie später eingestellt: “Mangelndes öffentliches Interesse”. Ich kenne das. Der Unterschied zu natenom: er wird nicht, wie ich, mit 50 km/h knapp überholt sondern mit 100 km/h. So knapp, dass sein Abstandshalter gestreift wird, er mit seinem rechten Arm das überholende Auto berühren könnte. Autofahrende werfen aus dem Beifahrerfenster Dosen nach ihm. Die Pforzheimer Polizei sagt: Vielleicht war es ja keine Absicht, Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft stellen das Verfahren ein. Andreas ist hartnäckig: Er fordert nicht weniger als sein Recht ein, unversehrt auf guter Infrastruktur, die für alle da sein soll, von A nach B zu kommen.

Freunde von natenom haben u.a. seinen Blog archiviert: Auf natenom.de kann man sich ein Bild von ihm machen, aber man muss hartgesotten sein. Für vieles bräuchte es eine Triggerwarnung: Achtung! Dieser Text handelt von Gewalt, von Arbeitsverweigerung von Polizei und Staatsanwaltschaft, solche Sachen…

Unser Zubringer aus Karlsruhe kommt eine Viertelstunde vor Beginn der Kundgebung an. Der Ort wurde mit Bedacht gewählt: ca. 400 Radfahrende stehen vor der Staatsanwaltschaft Pforzheim. Es gibt verschiedene Reden. Reden, die die vielen Facetten des Menschen Andreas Mandalka beleuchten. Der Fokus liegt aber auf seinem Einsatz für eine sichere und gerechte Infrastruktur für Radfahrende. Siggi von der Initiative “Fahrradstadt Pforzheim” stellt einen pointierten sog. Fünf-Punkte-Plan für mehr Sicherheit in Deutschland vor. Ulrike ist aus Dresden angereist und stellt ebenfalls Forderungen an Politik, an Polizei und Staatsanwaltschaft. Sie klagt auch an. Wie natenom schreibt sie Anzeigen gegen Autofahrende, die sie massiv gefährden. Wie bei natenom werden diese Anzeigen eingestellt. Ulrike ruft: “Ich habe es satt, gefährdet zu werden!”. Beifall.

Still wird es unter den Versammelten, als einer der Redner aus einem Bericht zum Unfallhergang zitiert: Nach einer Kurve sei der Autofahrer 10 Sekunden lang auf natenom zugefahren, bis es schließlich zum tödlichen Unfall kommt. Auf gerader Strecke. Der Redner bittet alle, die Augen zu schließen und zählt bis 10. Jede einzelne Sekunde eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, in der am 30.01.2024 ein Autofahrer “ungebremst mit einer Geschwindigkeit zwischen 80 und 90 km/h auf den Fahrradfahrer aufgefahren” sei, so die Staatsanwaltschaft.

Nach den Reden setzt sich der Zug bei herrlicher Februarsonne mit viel Polizeibegleitung in Bewegung. Es ist ein gemischtes Publikum: Menschen mit Lastenrädern, E-Bikes, einer fährt ein 20-Zoll-Klapprad, einer ein Tall-Bike, andere Rennrad in voller Montur. Was mir auffällt: Noch nie habe ich so viele Menschen mit Dashcams am Fahrrad gesehen wie hier.

Zu Beginn der Fahrt tönt aus der Bluetooth-Box eines Radlers noch Gute-Laune-Critical-Mass-Musik. Aber es ist eine Gedenkfahrt, andere Musik gibt es nicht und auch die Box höre ich später nicht mehr. Gespräche gibt es stattdessen: viele, durch das Wechseln der Position innerhalb der Gruppe mit vielen unterschiedlichen Menschen. Es geht um Andreas. Um Radinfrastruktur vor Ort. Um Wut und Frust darüber, dass Anzeigen von Radfahrenden gegen Autofahrende nicht verfolgt werden.

Die Gruppe fährt den Berg hoch. Manche schinden sich. Einer der Menschen, die via Weste als Ordner ausgewiesen sind, fährt zu einer Radfahrerin, die sich den Berg mit dem schwergängigen Bahnhofsleihrad hochquält: “Ich kann dich gern ein bisschen schieben! Ich hab schon alle möglichen Menschen geschoben.” Sie nimmt dankend an.

Entlang der Strecke stehen Anwohnerinnen und gucken. Manche machen Fotos. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie im Geist beschimpfe, sie mitverantwortlich mache für Andreas’ Tod. “Ihr habt alle nichts gemacht. Ihr habt ihn jahrelang gefährdet, beschimpft, bespuckt, geschnitten, angehupt, schließlich getötet. Pforzheim und Umgebung wurden von natenom als “Fahrradmordor” bezeichnet. Mir gehen Videos durch den Kopf, die er ins Netz gestellt hat. Jahrelang, immer wieder. Deshalb habe ich ein sehr schlechtes Bild von der Bevölkerung. Obwohl ich weiß, dass es immer falsch ist, von Einzelnen auf eine ganze Gruppe zu schließen, alle erwachsenen Menschen einer Region in Sippenhaft zu nehmen für das Fehlverhalten einzelner (das meist wiederholte Fehlverhalten wohlgemerkt – Andreas hatte viele Wiederholungstäter unter den Menschen, die ihn gefährdeten)….

Vor dem Wohnhaus von Andreas halten wir. Oder besser: manche halten vor dem Wohnhaus. Die anderen verteilen sich auf der Straße rechts und links davon: 400 Radfahrende brauchen eine Menge Platz. Wir singen auf die Melodie von “Hejo, spann den Wagen an” “He ho – leistet Widerstand, denn Radwege fehlen hier im Land”. Die Radltante gibt den Ton an, geht singend durch die stehende Gruppe. Fast alle singen mit, zumindest, solange die Radltante zu hören ist. Und sie ist weit zu hören, den Beinamen “Frau Laut” hat sie nicht umsonst. Manche versuchen sich an einem Kanon. Wer das Lied kennt, weiß: es endet nicht, Dominante und Tonika, erklärt mir mein Sohn am Abend. Der eigentlich letzte Ton des Lieds verlangt nach einem weiteren, vermeintlich abschließenden Ton. Der ist aber schon wieder der Anfangston, erst durch das Zurückkehren zum Anfang löst sich das Ende auf. Es ist wie eine Endlosschleife. Und so singen wir auch: lange und ausdauernd und immer wieder “haltet fest zusammen… …he, ho, leistet Widerstand” – wir haben das schon nach den Reden vor der Staatsanwaltschaft in Pforzheim gut eingeübt.

Danach geht es noch einige Kilometer weiter bis zur Unfallstelle, die ich zunächst nur im Vorbeifahren sehe. Ich kenne das Setting mit Kerzen, Schildern und dem Ghost Bike von Bildern im Netz. Beim Vorbeifahren erwischt es mich mit Macht. Hier ist es tatsächlich passiert: Hier wurde Andreas totgefahren. Auf einer Straße, deren Belag nahe an Flüsterasphalt kommt. Auf einer Straße, die an dieser Stelle schon lange nur geradeaus geht. Andreas: auch Sekunden vor seinem Tod wie immer: mit Beleuchtung, Reflektoren am Fahrrad, einer Warnweste. Wie kann ein Mensch einen anderen 10 Sekunden lang nicht wahrnehmen? Ungebremst auf einen Radfahrer drauffahren. Nein, nicht auf “einen Radfahrer”, denke ich: auf Andreas, der seit Jahren von dieser, seiner Hausstrecke berichtet. Der Landesstraße 574. Der dafür in den umliegenden Gemeinden bekannt ist. Eigentlich müsste gerade deswegen jeder Mensch, der da Auto fährt hochgradig sensibilisiert sein: wissen, dass da mit einem Radfahrer zu rechnen ist. Wissen, dass es gut sein kann, dass Andreas da gerade unterwegs ist. 10 Sekunden. Der Wut weicht Entsetzen, verzweifelte Hilflosigkeit. Wahrscheinlich geht es vielen so. An der Unfallstelle legen fast alle ihre Räder auf die Straße. Es gibt eine Gedenkminute.

Im Anschluss gehen noch mal viele zum Ghost Bike. Bleiben stehen. Gedenken Andreas. Stellen Kerzen auf, hängen ein Schild ans Ghost Bike, einen selbstgestrickten Elefanten, Andreas’ Maskottchen, in den Baum daneben.

Während wir an der Unfallstelle stehen, spricht mich einer auf das Pappschild an, das auf meinem Rücken hängt: “Stop killing cyclists!”. Ob das auch für Radfahrer gelte oder nur für Cyclists, was wenn jemand das nicht verstehe? Ich habe keine Lust, darauf einzugehen. Ich antworte ihm, dass das Schild zu einem großen Teil der Selbstvergewisserung in der Gruppe dienen solle. Dort würde man es verstehen. Vielleicht sind auch deshalb so viele hier in Pforzheim, zeitgleich übrigens in vielen anderen Städten Deutschlands, unterwegs im Gedenken an natenom, weil es auch wichtig ist, sich selbst zu vergewissern: Es ist wichtig, sich für eine gescheite Radinfrastruktur einzusetzen. Es ist wichtig, sich nicht abbringen zu lassen vom Anzeigen schreiben. Damit irgendwann was passiert.

Für mich wird die Rückfahrt zu einem buchstäblichen Ride of Silence. In Gedanken und mit den Bildern der Unfallstelle fahre ich ohne Gespräche im Pulk den Weg zurück nach Pforzheim.

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